Wie mit einem Schiebespiel an die Verantwortung der Medien während des Pogroms erinnert werden soll, erklärt das Künstlerkollektiv SCHAUM im Interview: Anlässlich der Einweihung der Stele 2017 fragt Ostsee-Zeitungsredakteur Jan-Peter Schröder, was aus der Berichterstattung während des Pogroms 1992 für die heutige journalistische Arbeit gelernt werden kann:
Die Lokalzeitungen berichteten seit 1991 über die Situation bei der Zentralen Aufnahmestelle (ZASt) für Asylsuchende in Lichtenhagen. Die Berichterstattung der lokalen Medien trug wenig dazu bei die angespannte Situation in Lichtenhagen zu deeskalieren. Antiziganistische und rassistische Vorurteile aus der Bevölkerung und von Politiker*innen wurden kommentarlos wiedergegeben und nicht hinterfragt. Statt aufzuklären und einzuordnen, wurde in einigen Artikeln ein Bild verbreitet, wonach die Geflüchteten selbst Schuld an ihrer Situation seien. Doris Deutsch, 1992 Redakteurin der Ostsee-Zeitung, über Fehler in der Berichterstattung:
In der Woche vor dem Pogrom veröffentlichten Rostocker Lokalzeitungen mehrere Artikel, in denen durch eine selbsternannte Bürgerinitiative dazu aufgerufen wurde, sich am 22. August vor dem Sonnenblumenhaus zu versammeln. In den Berichten wurden gewalttätige Übergriffe angekündigt. Dem Aufruf folgten am 22. August 1992 mehrere hundert Menschen. Aus der in der Zeitung angekündigten Versammlung entstand das mehrtägige Pogrom. Warum er der Lokalzeitung Norddeutsche Neueste Nachrichten davon abriet, die Ankündigungen zu drucken, erklärt Wolfgang Richter, damaliger Ausländerbeauftragter, 2012 im Interview:
Die 2018 eingeweihte Gedenkstele „Empathie“ ist auf das Wirken von Migrant*innenorganisationen zurückzuführen. Sie machten darauf aufmerksam, dass keine der dezentralen Stelen zum Gedenken an das Pogrom von Lichtenhagen den Migrant*innen gewidmet ist, die 1992 angegriffen wurden. Das Interkulturelle Zentrum Waldemarhof e.V initiierte und finanzierte die Stele auf dem Doberaner Platz. Heute gibt es in Mecklenburg-Vorpommern ungefähr 60 Organisationen von Menschen mit Migrationserfahrung, die im Dachverband Migra.net vernetzt sind. Wenige Wochen nach dem Pogrom wurde in Rostock einer der ersten Migrant*innenräte (früher: Ausländerbeirat) der ostdeutschen Bundesländer gewählt. Welche Rolle das Gremium für politische Teilhabe spielt, schildert Imam Jonas Dogesch, ehemaliger Vorsitzender des Rostocker Migrantenrates: Die Stele am Doberaner Platz soll zur solidarischen Geste der Umarmung einladen, erklärt die Künstler*innengruppe SCHAUM.
Flüchtlinge, die die rassistischen Angriffe in der Zentralen Aufnahmestelle (ZASt) in Rostock-Lichtenhagen miterleben mussten, wurden auf andere Unterkünfte in Mecklenburg-Vorpommern verteilt. Mima und Anka schildern ihre Situation: Einen Monat nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen unterzeichneten der deutsche und rumänische Innenminister ein Rücknahmeabkommen. Es ermöglichte, abgelehnte Asylsuchende nach Rumänien abzuschieben. Mit der Ändrung des Asylrechts im Jahr 1993 verringerte sich die Zahl derjenigen, die ihr Recht auf Asyl in Deutschland geltend machen konnten. Insbesondere den Rom*nja unter den rumänischen Geflüchteten drohte die unfreiwillige Rückkehr in ein Land, in dem sie rassistischer Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt waren. Um gegen die geplanten Abschiebungen zu protestieren, besetzte am 14. Oktober 1992 eine Gruppe jüdischer Menschen aus Frankreich das Rostocker Rathaus. Die Zentrale Aufnahmstelle (ZASt) […]
Nachdem die Vietnames*innen den Brandanschlag auf ihr Wohnheim nur durch viel Glück physisch unbeschadet überlebt hatten, waren sie in einer Turnhalle in Marienehe untergebracht. Das Bleiberecht der ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen wurde erst 1997 endgültig politisch geregelt. Seit 1993 erhielten nur Personen eine Aufenthaltserlaubnis, die keine Vorstrafen hatten und ihren Lebensunterhalt eigenständig bestreiten konnten. Mai-Phuong Kollath, die 1981 als Vertragsarbeiterin nach Rostock kam, schildert, wie sie die jahrelange Bleiberechtsdiskussion wahrnahm: Als Reaktion auf das Pogrom von Lichtenhagen gründeten die in Rostock lebenden Vietnames*innen den Verein „Diên Hông – Gemeinsam unter einem Dach e.V“. Damit wollten sie ihren Interessen selbstbestimmt Gehör verschaffen und das Zusammenleben mit ihren Nachbar*innen aktiv gestalten. Im Dezember 1992 rief der Verein zu einer Demonstration gegen die geplante […]
Für die leitenden Beamten auf Landes- und kommunaler Ebene hatte ihr Verhalten keine strafrechtlichen Konsequenzen. Ein Strafverfahren wegen fahrlässiger Brandstiftung gegen Siegfried Kordus, den verantwortlichen Polizeichef von Rostock, wurde 1994 eingestellt. Er trat einige Tage nach dem Pogrom wie geplant seine Stelle als Leiter des Landeskriminalamtes an. Sein Stellvertreter und Einsatzleiter vor Ort, Jürgen Deckert, der den Einsatz über 60 Stunden allein leiten musste, wurde an die Polizeihochschule in Güstrow versetzt. Ein Strafverfahren gegen ihn wurde im Jahr 2000 eingestellt. Thomas Laum berichtet, was sich aus Sicht der Rostocker Polizei seit 1992 verändert hat. Herr Laum leitete die Kriminalpolizeiinspektion Rostock von 1991 bis 1997 und war für die strafrechtliche Verfolgung der Gewalttäter*innen von Lichtenhagen zuständig:
“ Der Ausschuss hat festgestellt, dass bei der Führung des Polizeieinsatzes gegen grundlegende Prinzipien polizeilicher Einsatzführung verstoßen wurde. Dieser Fehler führte zur Gefährdung der Gesundheit von Menschen (…).“ aus: Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses Landtag MV, S.22. Wie sich der Polizeieinsatz aus Sicht der angegriffenen Menschen im Sonnenblumenhaus gestaltete, berichten vietnamesische Bewohner*innen und ihre Unterstützer*innen in der Dokumentation „The truth lies in Rostock“: Während die Erstaufnahmestelle für Geflüchtete (ZASt) am dritten Tag der Pogrome evakuiert worden war, hielten sich im Wohnheim der vietnamesichen Vertragsarbeiter*innen am Montagabend noch 120 Menschen auf. Dennoch zog die Polizei ihre Einsatzkräfte für mehr als eine Stunde vollständig vom Sonnenblumenhaus ab. Was ihn dazu bewog, erklärte der Einsatzleiter Jürgen Deckert vor dem Untersuchungsausschuss des Landtags: „So konnte der […]
Die Aufgaben der Polizei sind im Sicherheits- und Ordnungsgesetz festgeschrieben. Ein Auszug daraus ist in die Stele eingraviert. Warum die Stele schief steht, erklärt das Künstler*innenkollektiv Schaum im Interview:
Seit Beginn der 1980er Jahre lebten im Sonnenblumenhaus Menschen aus Vietnam, Angola, Kuba und Algerien. Die DDR-Regierung hatte sie als „Vertragsarbeiter*innen“ angeworben. Ihr Aufenthalt in der DDR war meist für vier bis fünf Jahre befristet, in denen sie am Rostocker Hafen, auf den Werften, bei der „Reichsbahn,“ im Hotel- und Gaststättenwesen und in der Jugendmodefabrik „Shanty“ arbeiteten. Ihren Arbeits- und Wohnort konnten die Vertragsarbeitnehmer*innen nicht frei wählen. Sie bekamen kaum Möglichkeiten, die Sprache zu lernen. Kontakte zur deutschen Bevölkerung abseits des Arbeitsplatzes wurden kontrolliert. In Folge der Wiedervereinigung verloren die Vertragsarbeitnehmer*innen als erste ihre Beschäftigung. Viele von ihnen mussten Deutschland verlassen. Mai-Phuong Kollath schildert, wie es den 200 in Rostock verbleibenden Vietnames*innen ging: Die Gewalt während des Pogroms im August […]