„Politik“ – Rathaus
Die Stele „Politik“ am Rathaus erinnert daran, dass Politiker*innen ihrer Verantwortung vor und während der tagelangen rassistischen Angriffe auf Geflüchtete und vietnamesische Rostocker*innen im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen nicht nachkamen. Der Abdruck eines Gesichts in der Stele fordert zur Verneigung vor den Betroffenen der rassistischen Gewalt auf und hinterfragt gleichzeitig solche öffentlichen Gesten.
Politiker*innen in Stadt und Land nutzten ihre Befugnisse nicht in ausreichendem Maß, um die angespannte Situation rund um die Erstaufnahmestelle für Geflüchtete in Lichtenhagen zu verbessern und die tagelange rassistische Gewalt im August 1992 zu verhindern.
Die 1990 im Stadtteil Lichtenhagen eingerichtete landesweite Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete war seit 1991 überfüllt. Ab dem Frühjahr 1992 mussten Asylsuchende zum Teil mehrere Tage ohne Nahrung, Geld und Zugang zu Toiletten und medizinischer Versorgung vor der Einrichtung ausharren. Landesregierung und Hansestadt Rostock schoben sich gegenseitig die Verantwortung für die Lösung der Situation zu und unternahmen wenig, um die Lage vor Ort zu verbessern.
Die drohende Gewalt im Umfeld der Unterkunft war den Politiker*innen bekannt, zog aber kein konsequentes Handeln nach sich. Während des Pogroms vom 22. bis zum 24. August 1992 stellten sich keine Stadtvertreter*innen vor Ort in Lichtenhagen aktiv an die Seite der angegriffenen Geflüchteten und vietnamesischen Migrant*innen, um ihnen zu helfen.
Das Versagen der politisch und polizeilich Verantwortlichen wurde in einem städtischen und einem landesweiten Untersuchungsausschuss beleuchtet. Rostocks Oberbürgermeister und der Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns mussten zurücktreten, ohne jedoch Verantwortung für das Geschehen zu übernehmen. Auf Bundesebene wurde die rassistische Gewalt in Rostock-Lichtenhagen zum Argument, um eine von der CDU und FDP lange geforderte Einschränkung des Asylrechts umzusetzen.
Politische Konsequenzen
Unmittelbar nach dem Pogrom gab es weder für die betroffenen Geflüchteten noch für die vietnamesischen Rostocker*innen eine offizielle Entschuldigung, Unterstützung oder Entschädigung durch staatliche Stellen. Stattdessen führten politische Entscheidungen im Nachgang des Pogroms dazu, dass die Mehrzahl der angegriffenen Geflüchteten Deutschland vermutlich verlassen musste. Auch die ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeitenden erhielten erst 1997 eine dauerhafte Bleibeperspektive in Deutschland.
Nahezu alle Politiker*innen bestritten ein persönliches Fehlverhalten im Vorfeld oder während der rassistischen Anschläge in Lichtenhagen. Nicht wenige deuteten das rassistische Pogrom als Folge einer verfehlten Zuwanderungspolitik oder gaben den betroffenen Geflüchteten die Schuld.
In einem Interview während der Gedenkveranstaltung zum 25. Jahrestag des Pogroms betonte der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, die Verantwortung der Politik für die Zustände vor der Zentralen Aufnahmestelle (ZASt). Statt diese Zustände zu ändern, hätten die Politiker*innen die Geflüchteten für die Situation verantwortlich gemacht:
Zur Aufklärung der Anschläge wurden ein städtischer und ein landesweiter Untersuchungsausschuss eingesetzt. Die parlamentarischen Untersuchungen ergaben, dass die Zuständigkeiten für die Situation vor der ZASt für Geflüchtete in Lichtenhagen zwischen Stadt und Land nicht ausreichend geklärt waren, Beschlüsse zur Verbesserung der Situation vor Ort nicht ausgeführt wurden und unzureichend auf die Beschwerden und Hinweise der Anwohner*innen in Lichtenhagen eingegangen wurde. Zusammenfassend hielt der kommunale Untersuchungsausschussbericht fest:
„Der Senat und der Oberbürgermeister haben die Situation und deren mögliche Eskalation in Lichtenhagen unterschätzt. Der Senat und der Oberbürgermeister sind ihrer politischen Verantwortung nicht gerecht geworden. Die Bürgerschaft hat sich mit den Erklärungen des Senates zufrieden gegeben.“
Abschlussbericht Parlamentarischer Untersuchungsausschuss Hansestadt Rostock, S. 16.
Rostocks Oberbürgermeister, Klaus Kilimann, und Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister, Lother Kupfer, traten 1993 zurück. Die Rücktritte waren kein Ausdruck einer persönlichen Verantwortungsübernahme, sondern erfolgten auf politischen Druck.
Die parlamentarischen Untersuchungen in der Rostocker Bürgerschaft und im Landtag wurden kritisiert, da viele Fragen zu den politischen Verantwortlichkeiten und dem Polizeieinsatz nicht widerspruchsfrei aufgeklärt werden konnten. Strafanzeigen, die gegen politisch Verantwortliche, u.a. wegen unterlassener Hilfeleistung oder fahrlässiger Brandstiftung gestellt worden waren, wurden eingestellt.
Zehn Jahre nach den Anschlägen entschuldigte sich der damalige Oberbürgermeister Rostocks, Arno Pöker, erstmals offiziell bei den Betroffenen der rassistischen Gewalt.
Bis heute gibt es Diskussionen zum politischen Umgang mit diesem Ereignis. Dabei werden immer wieder unterschiedliche Forderungen und Ansprüche an die Stadt gestellt. So forderte 2020 Mai-Phuong Kollath, die in den 1980er Jahren als Vertragsarbeiterin nach Rostock kam und im Sonnenblumenhaus lebte, dass die Stadt die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen 1992 als rassistischen Brandanschlag benennt und weiter aufarbeitet:
Änderung des Asylrechts
Als Konsequenz der nationalsozialistischen Verfolgung wurde das Grundrecht auf Asyl 1949 im Grundgesetz verankert. In Artikel 16 wird mit dem Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ der Schutz für verfolgte Menschen festgeschrieben.
Seit den 1980er Jahren stieg die Zahl der Asylanträge in der Bundesrepublik. Die CDU wollte die Zuwanderung begrenzen und forderte eine Reform des Asylrechts. Da hierfür das Grundgesetz geändert werden musste, war sie auf die Zustimmung der SPD angewiesen, um eine 2/3 Mehrheit im Bundestag für das Vorhaben zu bekommen. Die SPD weigerte sich jedoch, das Grundrecht auf Asyl einzuschränken.
In der öffentlichen Debatte wurde mit Blick auf die hohe Ablehnungsquote von Asylanträgen Migrant*innen unterstellt, das Asylrecht zu missbrauchen und so rassistische Gewalt zu provozieren. Politiker*innen argumentierten, die Zuwanderung müsse eingeschränkt werden, um rechte Übergriffe zu verhindern. Solche Argumentationen können als Täter-Opfer-Umkehr beschrieben werden. Den eigentlichen Betroffenen wird unterstellt, dass sie selbst für die Gewalt gegen sich verantwortlich seien.
Am 22. August 1992, dem ersten Tag der rassistischen Anschläge in Rostock-Lichtenhagen, schwenkte auch die SPD-Führung auf den Kurs der CDU um ein und befürwortete fortan eine Änderung des Asylrechts. CDU, CSU, FDP und SPD vereinbarten den sogenannten „Asylkompromiss“, der am 26. Mai 1993 im Bundestag beschlossen wurde.
Durch das Gesetz wurden die Möglichkeiten, das Grundrecht auf Asyl in Deutschland in Anspruch zu nehmen, stark eingeschränkt. Wer über einen sogenannten „sicheren Drittstaat“ nach Deutschland eingereist war oder aus einem sogenannten „sicheren Herkunftsland“ floh, hatte fortan kaum Chancen auf Asyl in Deutschland. Mit der Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes wurden Menschen im Asylverfahren und Geduldete im Hinblick auf Unterstützungsansprüche für Unterkunft, medizinische Versorgung und Leistungen zur Deckung des Lebensunterhalts schlechter gestellt als Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit.
Zehntausend Menschen demonstrierten am Tag des Beschlusses durch den Bundestag gegen die Gesetzesänderung in Bonn. Der Ausschnitt aus der Tagesschau vom 26. Mai 1993 zeigt die Demonstrationen und die zeitweise Blockade des Bundestages.
Geschichte der städtischen Gedenkkultur
Wie ein angemessenes Gedenken an die tagelangen rassistischen Übergriffe in Lichtenhagen 1992 aussehen sollte, ist ein kontrovers diskutiertes Thema.
Einen ersten Versuch zur Errichtung eines Erinnerungsortes gab es bereits wenige Wochen nach dem Pogrom. Die „Söhne und Töchter der deportierten Juden aus Frankreich“ und der Roma National Congress brachten am 19. Oktober 1992 eine Gedenktafel am Rathaus an und besetzten die Räume der CDU-Fraktion im Rathaus. Damit wollten sie sowohl an die rassistische Gewalt erinnern als auch gegen die drohende Abschiebung von Betroffenen des Pogroms protestieren. Bei Auseinandersetzungen mit der Polizei wurden viele der Aktivist*innen verhaftet und die Gedenktafel kurz darauf entfernt.
In den folgenden Jahren hielten vor allem zivilgesellschaftliche Initiativen und Engagierte aus dem Kultur-, Medien- und Wissenschaftsbereich die Erinnerung an die Ereignisse wach. Mit vielfältigen Formaten wurde versucht, eine Beschäftigung mit dem Pogrom und dessen Folgen für die Gegenwart zu schaffen.
Zum zehnten Jahrestag des Pogroms 2002 richtete die Rostocker Bürgerschaft eine Gedenkveranstaltung aus. Der damalige Oberbürgermeister Arno Pöker entschuldigte sich hier erstmals öffentlich bei den Betroffenen der rassistischen Gewalt und forderte eine fortwährende Auseinandersetzung der Stadtgesellschaft mit den Ereignissen.
Unterschiedliche Blickwinkel prägen bis heute die Aktivitäten zum Gedenken an das Pogrom. Während zum Beispiel die einen die Wandlung Rostocks zu einer weltoffenen und toleranten Stadt betonen, weisen andere auf die Kontinuitäten von Rassismus und rechter Gewalt hin.
Diese verschiedenen Sichtweisen wurden zum 20. Jahrestag des Pogroms im August 2012 besonders deutlich. Während die Bürgerschaft ein Fest vor dem Sonnenblumenhaus unter dem Motto „Lichtenhagen bewegt sich“ ausrichten ließ, demonstrierten mehr als 6.500 Menschen unter dem Motto „Das Problem heißt Rassismus – Grenzenlose Solidarität“ durch Rostock. Die beiden Videos vermitteln einen Eindruck von den Gedenkveranstaltungen aus der Perspektive antirassistischer Aktivist*innen:
Eine von der Stadt Rostock als Erinnerungszeichen gepflanzte „Friedenseiche“ vor dem Sonnenblumenhaus wurde wenige Tage nach der Gedenkveranstaltung abgesägt. In einer Erklärung hieß es, die Eiche als „Symbol für Deutschtümelei und Militarismus“ könne kein würdiges Erinnerungszeichen für das rassistische Pogrom sein.
Kurz darauf wurde durch die Kommune die „Arbeitsgruppe Gedenken“ gegründet. Hier beraten seitdem Vertreter*innen der Rostocker Bürgerschaftsfraktionen, Stadtverwaltung und Stadtgesellschaft über ein angemessenes Gedenken zu verschiedenen Themenfeldern. Zum Gedenken an das Pogrom in Lichtenhagen initiierte die Arbeitsgruppe einen Kunstwettbewerb, aus dem das 2017/2018 eingeweihte dezentrale Denkmal „Gestern Heute Morgen“ hervorging.
Gestaltung der Stele „Politik“
Das Künstler*innenkollektiv SCHAUM erklärt im Interview die Gestaltung der Gedenkstele „Politik“ vor dem Rathaus.