„Empathie“ – Doberaner Platz
Die Stele „Empathie“ ist den Betroffenen des rassistischen Pogroms von Rostock-Lichtenhagen 1992 gewidmet. Sie wurde als sechste, zusätzliche Stele des Denkmals „Gestern Heute Morgen“ 2018 eingeweiht. Die Marmorstele zeigt den Negativabdruck von zwei Menschen, die sich umarmen.
Die tagelangen rassistischen Angriffe auf das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen 1992 richteten sich gegen Asylsuchende, die in der dortigen Erstaufnahmestelle untergebracht waren und gegen vietnamesische Rostocker*innen, die im Nachbaraufgang lebten.
Bis heute ist unklar, wie viele Menschen das Pogrom in der Erstaufnahmestelle überlebten oder aus welchen Ländern sie kamen. Die einzigen heute bekannten Überlebenden sind Rom:nja aus dem Süden Rumäniens. Die Asylsuchenden wurden am dritten Tag des Pogroms evakuiert und auf andere Unterkünfte im Land verteilt.
Die angegriffenen vietnamesischen Rostocker:innen waren in den 1980er Jahren als sogenannte „Vertragsarbeiter“ nach Deutschland gekommen. Die meisten von ihnen lebten 1992 bereits mehrere Jahre im Sonnenblumenhaus. Nachdem sie sich am 24. August 1992 selbst aus dem brennenden Haus gerettet hatten, wurden sie in verschiedene Notunterkünfte gebracht.
Die Betroffenen des Pogroms erhielten von staatlicher Seite weder Angebote für Entschädigungen oder Schadensersatz noch für Unterstützung in Form von Beratung, psychologischer Betreuung oder individueller Hilfe. Vermutlich verließen die meisten der betroffenen Asylsuchenden Mecklenburg-Vorpommern wieder, um der andauernden Gewalt und drohenden Abschiebungen zu entgehen. Erst 1997 wurde das Bleiberecht der ehemaligen Vertragsarbeitnehmer*innen aus Vietnam endgültig politisch geregelt. Zehn Jahre nach den Ereignissen entschuldigte sich der damalige Rostocker Oberbürgermeister, Arno Pöker, erstmals offiziell bei den vietnamesischen Betroffenen.
Bereits vor dem Pogrom organisierten sich Rostocker*innen mit Migrationserfahrung in Vereinen und politischen Gremien. Dazu gehörte der Migrantenrat (früher „Ausländerbeirat“), dessen Wahl seit 1991 vorbereitet worden war. Vietnamesische Rostocker*innen gründeten im Oktober 1992 den Verein Diên Hồng e.V., um ihre Perspektiven in die Stadtgesellschaft zu tragen.
Beide Organisationen haben heute ihren Sitz im Interkulturellen Zentrum im Waldemarhof. Der Trägerverein des Waldemarhofes initialisierte und finanzierte die Errichtung der Gedenkstele „Empathie“.
Betroffene Rom*nja
Bis heute ist nicht bekannt, wie viele Menschen während des Pogroms in der Zentralen Aufnahmestelle (ZASt) waren, wie ihre Namen sind oder aus welchen Ländern sie kamen. Bekannt ist, dass einige von ihnen Rom*nja aus dem Süden Rumäniens waren. Die Minderheit der Rom*nja ist in vielen Ländern Diskriminierungen ausgesetzt. In Rumänien erlebten viele Rom*nja nach dem Ende der sozialistischen Diktatur 1990 extreme Armut, staatliche Verfolgung und rassistische Gewalt. Manche von ihnen entschlossen sich daraufhin, Rumänien zu verlassen und beispielsweise nach Deutschland zu gehen. Davon berichten im Interview Leonora und Marian Dumitru, die mit ihrer Familie im August 1992 aus dem südrumänischen Craiova nach Rostock kamen:
Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in Osteuropa wurden in Deutschland zahlreiche Regelungen erlassen, um die Migration nach Deutschland zu begrenzen. Für Rumän*innen war es bald kaum noch möglich, legal nach Deutschland zu gelangen. Ihnen blieb nur der Weg über die sogenannte „Grüne Grenze“. Darüber berichtet Marian Dumitru:
In Rostock-Lichtenhagen war die Unterbringungssituation für Asylsuchende im Sommer 1992 sehr schlecht. Die ZASt war wiederholt überbelegt und viele Menschen mussten tagelang ohne jegliche Versorgung vor dem Gebäude ausharren. Als sich am 22. August 1992 eine aggressive Menschenmenge vor dem Sonnenblumenhaus versammelte, wurden die draußen wartenden Asylsuchenden in das Gebäude gelassen. Die Asylsuchenden im Haus überlebten zwei Tage lebensbedrohlicher rassistischer Angriffe.
Am Morgen des 24. August 1992 wurde die ZASt schließlich geräumt. Die Asylsuchenden wurden auf andere Unterkünfte, zum Beispiel in Greifswald, Bad Doberan, Stralsund und Schwerin gebracht. Außerdem wurden bereits Menschen in die neue ZASt nach Rostock-Hinrichshagen verlegt, die am 1. September 1992 eröffnen sollte.
In Hinrichshagen erlebte ein Teil der Asylsuchenden aus Lichtenhagen nur drei Tage nach dem Pogrom erneut einen rassistischen Angriff. Von einem solchen Angriff, aber an einem anderen Ort, berichtet auch Romeo Ilie. Er war mit seiner Familie aus dem südrumänischen Alexandria nach Deutschland gekommen und überlebte in Lichtenhagen das Pogrom. Unmittelbar nach der Evakuierung wurde seine Familie erneut angegriffen:
“Nachdem sie uns umverteilt hatten und wir in diesem Dorf angekommen waren, schliefen wir nur eine Nacht, und direkt danach kamen die Nazis wieder. […] Als die Nazis kamen, passierte das Gleiche wieder – sie warfen die Fenster mit Steinen ein, sie warfen auf uns mit Brandflaschen, mit den Sofas, die direkt vor uns standen. Ich schwöre, es war eine Katastrophe.“
Interview mit Romeo Ilie aus dem März 2022.
Auch Marian Dumitru erlebte die fortgesetzte Bedrohung durch rechte Gewalt. Im Interview erklärt er, dass seine Familie aufgrund dieser schließlich wieder nach Rumänien zurückkehrte:
Für die betroffenen Geflüchteten gab es nach den Anschlägen von staatlicher Seite weder eine Entschuldigung noch individuelle Betreuungs- und Hilfsangebote oder Entschädigungen. Stattdessen wurde die Situation in den Sammelunterkünften durch Verschärfungen der Asylgesetze noch weiter verschlechtert. In einem Ausschnitt aus der Dokumentation „The truth lies in Rostock“ berichten Mimi, die aus Jugoslawien geflohen war, und Anka, Romni aus dem rumänischen Craiova, über das Leben in den Sammelunterkünften und die Bedrohung durch rechte Gewalt:
Viele Geflüchtete verließen aufgrund der alltäglichen rechten Gewalt und der durch Gesetzesverschärfungen immer weiter verschlechterten Lebenssituation Mecklenburg-Vorpommern wieder. Andere verließen das Bundesland, um der drohenden Abschiebung zu entgehen oder wurden abgeschoben. Ein bereits im Oktober 1992 geschlossenes Abkommen erleichterte die Abschiebungen nach Rumänien. Im Interview spricht Leonora Dumitru über die Rückkehr nach Rumänien und schildert, wie sie heute auf das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen zurückblickt:
Betroffene vietnamesische Rostocker*innen
Die DDR und die sozialistische Republik Vietnam schlossen 1966 und 1980 zwei Vereinbarungen, auf deren Grundlage junge Vietnames*innen als Vertragsarbeiter*innen in die DDR kamen. Nach Rostock kamen 1979 die ersten vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen. Die DDR-Regierung hatte sie angeworben, um den Mangel an Arbeitskräften auszugleichen. Die Motive und Hoffnungen der Vertragsarbeiter*innen waren vielfältig. Viele einte die Vorstellung von der DDR als einem modernen, industrialisierten Land, in dem ein gutes Leben möglich sei und das ihnen bessere ökonomische Chancen und Qualifizierungsmöglichkeiten böte als die Nachkriegswirtschaft in Vietnam. Vietnam war zu diesem Zeitpunkt, vier Jahre nach dem Ende des Krieges, in einer schweren Wirtschaftskrise.
Der Aufenthalt von Vertragsarbeitnehmenden in der DDR war meist für vier bis fünf Jahre befristet. Sie arbeiteten im Rostocker Hafen, auf den Werften, bei der „Reichsbahn,“ im Hotel- und Gaststättenwesen und in der Jugendmodefabrik „Shanty“. Ihren Arbeits- und Wohnort konnten die Vertragsarbeiter*innen nicht frei wählen. Häufig wurden sie für unqualifizierte oder körperlich schwere Arbeiten eingesetzt. Sie bekamen kaum Möglichkeiten, die Sprache zu lernen. Eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben war staatlicherseits nicht erwünscht. Ihr Arbeits- und Sozialleben sowie Kontakte zur deutschen Bevölkerung wurden streng kontrolliert. Wer gegen die vertraglichen Regeln verstieß, dem drohte die Ausweisung.
In Folge des Zusammenbruchs der DDR verloren die Vertragsarbeiter*innen als erste ihre Beschäftigung. Viele von ihnen mussten Deutschland verlassen. Mai-Phuong Kollath berichtet über die Unsicherheit und die Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung in dieser Zeit:
Die Gewalt während des Pogroms im August 1992 traf von Beginn an die Wohnungen der Vietnames*innen, die im Aufgang neben der Zentralen Aufnahmestelle für Asylsuchende (ZASt) lebten. Anders als die Geflüchteten in der Mecklenburger Allee Nr. 18 wurden die vietnamesischen Bewohner*innen des Sonnenblumenhauses nicht evakuiert. Nachdem sich die Polizei am Abend des dritten Tags des Pogroms zurückzog, konnten die rassistischen Angreifer*innen das ehemalige Wohnheim in Brand setzen. Den mehr als hundert im Haus eingeschlossenen vietnamesischen Rostocker*innen gelang gemeinsam die Flucht über das Dach des brennenden Gebäudes.
Nachdem die Vietnames*innen der lebensbedrohlichen Situation während des Brandanschlags nur entkommen konnten, weil sie sich selbst aus dem brennenden Haus befreiten, waren sie zunächst in einer Turnhalle in Marienehe und später in zwei Ferienheimen in der Nähe von Rostock untergebracht. Sie erhielten staatlicherseits keine Beratungs- und Unterstützungsangebote oder Entschädigungen.
Wenige Wochen nach dem Pogrom organisierten sie sich im Verein Diên Hồng. Im Sonnenblumenhaus entstand 1994 in Trägerschaft des Vereins eine Begegnungsstätte, die bis 1999 betrieben wurde. Über die Vereinsgründung berichtete bei einer Gedenkveranstaltung 2002 Tinh Do Nguyen:
„Die Stadtverwaltung hat zu diesem Zeitpunkt gesagt, dass der Brand gelöscht ist, alle Türen für uns offen sind, und wir ohne Angst in unsere Wohnungen zurückkehren können. Aber mir konnte keiner erzählen, dass wir mit kaputten Türen sicher sein konnten. Aus diesem Grund haben wir uns geweigert zurückzugehen.
Drei Tage hat es gedauert, bis die Stadt gesagt hat, ja sie sieht ein, dass die Gefahr immer noch besteht und hat dann entschieden, dass wir im Landschulheim Niex für die nächsten zwei Wochen untergebracht werden sollen.
Und in dieser Zeit haben wir uns zusammengesetzt und uns Gedanken gemacht, ob wir weiterhin in Rostock leben können, wie wir weiterhin in Rostock leben können, und was wir machen müssen, um in Rostock leben zu können. Und in diesen Tagen war die Idee mit der Vereinsgründung entstanden. Wir haben uns gesagt, dass ein passives Verhalten uns nicht mehr nützt.“
Rede von Tinh Do Nguyen auf der Gedenkveranstaltung im Rostocker Rathaus, 2002.
Viele der Angegriffenen fühlten sich durch die Gewalt an ihre Erlebnisse im Zweiten Indochinakrieg (in Deutschland auch Vietnamkrieg genannt) erinnert. Mai-Phuong Kollath schildert die Auswirkungen des Pogroms auf ihr Leben:
Migrantische Organisationen in Rostock
Als Reaktion auf das Pogrom von Lichtenhagen gründeten die in Rostock lebenden Vietnames*innen den Verein „Diên Hông – Gemeinsam unter einem Dach e.V.“. Damit wollten sie den Schutz gegen rassistische Gewalt organisieren, ihren Interessen gegenüber Staat und Gesellschaft selbstbestimmt Gehör verschaffen und das Zusammenleben mit ihren Nachbar*innen aktiv gestalten. Bis 1999 betrieb der Verein eine Begegnungsstätte im Sonnenblumenhaus. Mai-Phuong Kollath berichtet, wie sie in der Arbeit dort ihre vietnamesische Identität nicht mehr verleugnen musste und welche Erfahrungen sie in der Selbstorganisation machte:
Die vietnamesischen Betroffenen des Pogroms waren, obwohl sie teilweise seit Anfang der 1980er Jahre in Deutschland lebten, jahrelang von einer Abschiebung bedroht. Seit 1993 erhielten auf Basis einer Bleiberechtsregelung nur Personen eine befristete Aufenthaltserlaubnis, die keine Vorstrafen hatten und keine Sozialleistungen erhielten. Erst 1997 wurde das Bleiberecht ehemaliger Vertragsarbeiter*innen politisch geregelt und die Möglichkeit zum Familiennachzug geschaffen. Im Video schildert Mai-Phuong Kollath, wie sie die Unsicherheit während der jahrelangen Bleiberechtsdiskussion wahrnahm:
Im Dezember 1992 rief der Verein „Diên Hông“ zu einer Demonstration gegen die drohende Abschiebung von vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen in Schwerin auf. Im Video kritisieren Teilnehmende der Demonstration die Haltung der Landesregierung vor dem Hintergrund des Pogroms:
Wenige Wochen nach dem Pogrom wurde in Rostock einer der ersten Migrant*innenräte (früher: Ausländerbeiräte) der ostdeutschen Bundesländer gewählt. Schon seit 1991 war dessen Wahl vorbereitet worden. Imam-Jonas Dogesch, Mitglied des Rostocker Migrantenrates, schildert die Ermöglichung von politischer Teilhabe durch das Gremium und die Vorbildfunktion für andere Regionen:
Migrant*innen organisierten sich in Rostock in den Folgejahren in zahlreichen Vereinen, die meistens einzelne Nationalitäten repräsentierten. Heute gibt es mehr als 25 solcher migrantischer Selbstorganisationen in der Hansestadt, die im Migranet-MV auch überregional vernetzt sind.
Geschichte und Gestaltung der Stele
Bereits zum 20. Jahrestag des Pogroms im Jahr 2012 gab es Kritik daran, dass die Perspektiven und Stimmen der vietnamesischen und geflüchteten Betroffenen im Gedenken und in der Berichterstattung kaum eine Rolle spielten. Diese Leerstelle zeigte sich auch in den dezentralen Erinnerungsorten – keine der fünf 2017 eingeweihten Stelen war explizit den Betroffenen gewidmet, die 1992 in Lichtenhagen angegriffen worden waren.
Der Trägerverein des Waldemarhofes ergriff die Initiative und organisierte und finanzierte die Errichtung einer sechsten Stele, was große Zustimmung beim Migrantenrat und migrantischen Vereinen fand.
2018 wurde die zusätzliche Stele „Empathie“ am Doberaner Platz eingeweiht. Sie soll zur solidarischen Geste der Umarmung einladen, erklärt die Künstler*innengruppe SCHAUM:
Die Stele wird als Erinnerungsort für Betroffene rechter Gewalt genutzt, wie zum Beispiel bei einer Gedenkveranstaltung für die Toten der rassistischen Anschläge in München und Utøya im Juli 2021 oder beim Gedenken an den rassistischen Terroranschlag in Hanau.