Denkmal Mehmet Turgut

Das Denkmal am Neudierkower Weg erinnert an Mehmet Turgut, der hier am 25. Februar 2004 von Neonazis aus rassistischen Motiven ermordet wurde. Die zwei versetzt stehenden Betonbänke sollen zur Begegnung einladen.

Mehmet Turgut lebte und arbeitete in Rostock. Er war in der Türkei aufgewachsen, wo auch seine Familie lebt. Seit seiner Jugend versuchte er sich in Deutschland eine Existenz aufzubauen. Kurz nachdem der damals 25-jährige am 25. Februar 2004 seine Arbeitsstelle, einen Imbiss, aufgeschlossen hatte, betraten Neonazis des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) den Imbiss und erschossen Mehmet Turgut.

Neben Mehmet Turgut ermordeten Mitglieder des NSU neun weitere Menschen in verschiedenen deutschen Städten. Die Behörden sahen zunächst keine Anhaltspunkte für ein rassistisches Tatmotiv und ermittelten stattdessen intensiv im Umfeld der Angehörigen der Opfer. Auch Mehmet Turguts Familie wurde observiert und mehrfach befragt. Ihren Erklärungen wurde kein Glauben geschenkt. Erst durch die Selbstenttarnung des rechtsterroristischen Netzwerks 2011 kam heraus, dass Mehmet Turgut von Neonazis ermordet wurde. Seitdem finden in Rostock Gedenkveranstaltungen zur Erinnerung an Mehmet Turgut und die Opfer des NSU statt.

Mehmet Turgut wurde 1977 im türkischen Kayalık geboren. In dem kleinen kurdischen Dorf lebte er mit seinen vier Geschwistern und seinen Eltern, die als Landwirt*innen tätig waren.

Mehmet Turgut, Foto: privat

Seit seiner Jugend versuchte sich Mehmet Turgut eine Existenz in Deutschland aufzubauen. Er träumte von einem unabhängigen Leben, wollte hier eine Familie gründen und seine Eltern unterstützen. Um sich diesen Traum zu verwirklichen, nahm er verschiedene Jobs an, arbeitete in der Gastronomie und in der Landwirtschaft.

Mehmets jüngster Bruder Mustafa erinnert sich:

„Memo – so nannten wir meinen großen Bruder Mehmet. Ich war 12 Jahre alt, als er in Deutschland ermordet wurde. […] Wir hatten […] nur wenig gemeinsame Zeit miteinander, denn Memo war häufig in Deutschland. Seine Stimme hörte ich oft nur durchs Telefon. Deutschland war wie ein Sog für ihn. Er hatte keine Arbeitserlaubnis dort, keine Aufenthaltserlaubnis. Er wurde abgeschoben und kehrte doch immer wieder dorthin zurück. Ich glaube, dass es ihm nicht sehr gut ging dort. Und doch bedeutete Deutschland für ihn Hoffnung.“

Mustafa Turgut, in: Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet (2014), S. 73.

In Rostock half er bei einem Bekannten im Imbiss aus. Ein Freund aus Rostock erinnert sich an ihn:

„Ich habe ihn kennengelernt als wirklich sehr freundliche, friedvolle, sehr ehrgeizige Person. Immer ein Lächeln im Gesicht […] und ich habe ihn auch nur auf dem Arbeitsplatz kennengelernt, draußen habe ich ihn nie gesehen. Er […] war wirklich eine sehr, sehr fleißige Person, hat fast nur gearbeitet […].

Seyhmus Atay-Lichtermann, Vorsitzender des Rostocker Migrantenrates bei der digitalen Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des Mordes an Mehmet Turgut am 25.2.2021.

Am Morgen des 25. Februar 2004 hatte Mehmet Turgut gerade den Imbiss aufgeschlossen, als der oder die Täter*innen den Laden betraten und mehrfach auf ihn schossen. Der Besitzer des Imbisses fand ihn wenige Minuten später schwer verletzt. Mehmet Turgut verstarb kurz darauf im Rettungswagen.

Die folgenden Jahre beschreibt sein Bruder Mustafa als „Albtraum für die Familie“, denn die Ermittlungen der Polizei konzentrierten sich auf das Umfeld der Familie. So wurde der Mord jahrelang nicht aufgeklärt.

„Alle suchten nach Erklärungen und die Zeit der Gerüchte im Dorf begann. […] Irgendwann kam dann auch die deutsche Polizei. […] Die deutsche Polizei hat unsere ganze Familie schlecht gemacht […]. Sie hat die Gerüchte zusätzlich angeheizt. Die Verdächtigungen nahmen ein solches Ausmaß an, dass es die Familie fast zerstört hätte.“

Mustafa Turgut, in: Barbara John (Hrsg.): Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet, 2014, S. 76.

Die Angehörigen vermuteten, dass Mehmet von Neonazis ermordet wurde, doch die Behörden gingen ihren Hinweisen nicht nach:

„Mein Vater hatte zuvor ja einige Zeit in Deutschland gearbeitet. Er kannte Ausländerfeindlichkeit. Er war sich sicher: Das waren bestimmt die Kahlköpfe. […] Wir hatten keine andere Erklärung, doch keiner hat uns geglaubt. Das war das Schlimmste. Nur mein Vater war sicher: Es waren die Neonazis und eines Tages kommt die Wahrheit heraus.“

Mustafa Turgut, in: Barbara John (Hrsg.): Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet, 2014, S.77f.

Im Gespräch berichtet Seyhmus Atay-Lichtermann, Vorsitzender des Rostocker Migrant*innenrats, von der Verwunderung über die Vermutungen der deutschen Polizei, das durch den Mord entstandene Gefühl der Unsicherheit und das verlorene Vertrauen in den Rechtsstaat:

Seyhmus Atay-Lichtermann, Vorsitzender des Rostocker Migrantenrates bei der digitalen Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des Mordes an Mehmet Turgut am 25.2.2021.

Sieben Jahre nach dem Tod von Mehmet Turgut bekannte sich das neonazistische Terrornetzwerk „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) zu dem Mord. Seitdem finden in Rostock Gedenkveranstaltungen in Erinnerung an Mehmet Turgut statt.

Die Mord- und Anschlagserie des Nationalsozialistischen Untergrund (NSU)

Neonazis der Terrororganisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) ermordeten zwischen 2000 und 2006 zehn Menschen in verschiedenen deutschen Großstädten.

Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Künstler:innen und Urheber:innen Riccardo Sammarco und Veronika Dimke.

Der NSU verübte mindestens 43 weitere Mordversuche, 15 Banküberfälle und fünf Sprengstoffanschläge.

Die Taten des „Nationalsozialistischen Untergrunds“, © Bundeszentrale für politische Bildung.

Die Hinterbliebenen der Ermordeten wiesen schon früh auf den möglichen rassistischen Hintergrund der Taten hin. Statt den Hinweisen und Erklärungen der Hinterbliebenen und Betroffenen nachzugehen, wurde gegen sie selbst und ihr Umfeld ermittelt. Die Angehörigen wurden verdächtigt, observiert und befragt. Auch die Medien griffen die von rassistischen Stereotypen geprägten Erklärungen der Behörden auf und verbreiteten sie unhinterfragt weiter.

Nach einem missglückten Banküberfall im November 2011 nahmen sich zwei der Haupttäter des NSU, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, das Leben. Daraufhin zündete die dritte Haupttäterin, Beate Zschäpe, die gemeinsame Wohnung in Zwickau an, verschickte Bekennervideos und stellte sich wenige Tage später der Polizei. Erst jetzt erkannten die Ermittlungsbehörden an, dass es sich bei der Mord- und Anschlagsserie um rassistisch motivierte Verbrechen handelte.

Im Juli 2018 wurde Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft verurteilt. Vier Unterstützer erhielten Haftstrafen zwischen zweieinhalb und zehn Jahren. Es gibt zahlreiche Anhaltspunkte, dass der NSU bundesweit weitere Unterstützer*innen aus der neonazistischen Szene hatte. Ihre Rolle ist bis heute nicht aufgeklärt.

Die Mitglieder des NSU und viele ihrer Unterstützer*innen stammen aus einer Generation von Neonazis, die Anfang der 1990er Jahre politisch sozialisiert wurden. Prägend für diese Generation von Neonazis waren die Erfahrung einer oftmals untätigen Justiz und der mitunter breite gesellschaftliche Zuspruch für rechte Gewalt, wie sie auch das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen kennzeichnen. Betroffene rechter Gewalt weisen zudem darauf hin, dass sowohl die Betroffenen der Gewalt der 1990er Jahre als auch die Angehörigen der vom NSU Ermordeten, jahrzehntelang für juristische Aufklärung und Erinnerung kämpfen mussten.

Aufarbeitung des Mordes

Warum die Behörden die Taten des NSU trotz zahlreicher Polizei- und Geheimdienstmitarbeitender im Umfeld der Täter*innen nicht aufklärten, wird in mehreren parlamentarischen Untersuchungsausschüssen versucht aufzuarbeiten. In Mecklenburg-Vorpommern wurde ein solcher Ausschuss 2018 eingesetzt, dessen Arbeit bis heute andauert.

Vor dem Ausschuss sprach Mustafa Turgut von seinem Wunsch nach umfassender Aufklärung:

„Mein Bruder und die anderen Opfer werden nicht wieder zurückkommen, aber wir wünschen uns alle, dass wir unsere Antworten bekommen. Die Täter sollen bestraft werden, und die Helfer sollen ausfindig gemacht werden. Wir wünschen uns umfassende Aufklärung. Wir wünschen uns, dass so etwas in Deutschland nie wieder passiert.“

Mustafa Turgut vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages Mecklenburg-Vorpommern, in: Zwischenbericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (2021), S. 302.

Der Abgeordnete Peter Ritter, der für die Fraktion „Die Linke“ im Ausschuss saß, sieht weiterhin viele offene Fragen. Im Interview spricht er über einseitige Ermittlungen und die Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit dem Landesamt für Verfassungsschutz:

Peter Ritter im Interview mit Flavia Mosca Goretta für Radio Lohro, 2021.

Hinterbliebene und zivilgesellschaftliche Initiativen fordern, dass die Verbrechen des NSU und die Rolle der Behörden weiter aufgeklärt und Konsequenzen gezogen werden. Ein Beispiel dafür ist die Initiative „NSU-Tribunal“, die Mitverantwortliche für die Morde des NSU symbolisch anklagt. Darunter befinden sich ebenfalls Politiker*innen und Polizist*innen, die für das staatliche Versagen mitverantwortlich seien, welches auch das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen ermöglicht hat. In dem Video sind Ausschnitte aus dem ersten NSU-Tribunal zu sehen, das 2017 in Köln stattfand:

NSU-Tribunal: Tribunal ‚NSU-Komplex auflösen‘ – Der Trailer, 2017.

Gedenken an Mehmet Turgut

Zivilgesellschaftliche Initiativen erinnern seit der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 mit Gedenkveranstaltungen an Mehmet Turgut. Das Video zeigt die Gedenkveranstaltung am 9. Todestag von Mehmet Turgut am Neudierkower Weg.

Medienkollektiv Manfred: 25.02. – Gedenken an Mehmet Turgut – Rostock, 2013.

Zum zehnten Todestag von Mehmet Turgut wurde 2014 durch die Stadt Rostock ein Denkmal eingeweiht. Es besteht aus zwei Betonbänken, die sich versetzt gegenüberstehen und zu einer Begegnung einladen sollen. Zum Todeszeitpunkt von Mehmet Turgut am 25. Februar zwischen 10.10 und 10.20 Uhr scheint die Sonne zwischen den Bänken hindurch. Auf den Bänken sind Inschriften in deutscher und türkischer Sprache angebracht.

Mustafa Turgut und Franziska Giffey bei der Gedenkveranstaltung für Mehmet Turgut, Rostock 2020 
© Bildwerk Rostock
Mustafa Turgut und Franziska Giffey bei der Gedenkveranstaltung für Mehmet Turgut, Rostock 2020 © Bildwerk Rostock
Gedenkveranstaltung zum 16. Todestag von Mehmet Turgut, Rostock 2020 © Bildwerk Rostock
Gedenkveranstaltung zum 16. Todestag von Mehmet Turgut, Rostock 2020 © Bildwerk Rostock
Gedenkveranstaltung zum 16. Todestag von Mehmet Turgut, Rostock 2020 © Bildwerk Rostock
Gedenkveranstaltung zum 16. Todestag von Mehmet Turgut, Rostock 2020 © Bildwerk Rostock
Gedenkveranstaltung zum 16. Todestag von Mehmet Turgut, Rostock 2020 © Bildwerk Rostock
Gedenkveranstaltung zum 16. Todestag von Mehmet Turgut, Rostock 2020 © Bildwerk Rostock
Mustafa Turgut und Franziska Giffey bei der Gedenkveranstaltung für Mehmet Turgut, Rostock 2020 © Bildwerk Rostock
Mustafa Turgut und Franziska Giffey bei der Gedenkveranstaltung für Mehmet Turgut, Rostock 2020 © Bildwerk Rostock
Gedenkveranstaltung zum 16. Todestag von Mehmet Turgut, Rostock 2020 © Bildwerk Rostock
Gedenkveranstaltung zum 16. Todestag von Mehmet Turgut, Rostock 2020 © Bildwerk Rostock
Gedenken zum 16. Todestag von Mehmet Turgut in Rostock, Februar 2020 © Bildwerk Rostock
Gedenken zum 16. Todestag von Mehmet Turgut in Rostock, Februar 2020 © Bildwerk Rostock
Gedenkveranstaltung zum 16. Todestag von Mehmet Turgut, Rostock 2020 © Bildwerk Rostock
Gedenkveranstaltung zum 16. Todestag von Mehmet Turgut, Rostock 2020 © Bildwerk Rostock
Mustafa Turgut bei der Gedenkveranstaltung für seinen getöteten Bruder, Rostock 2020 
© Bildwerk Rostock
Mustafa Turgut bei der Gedenkveranstaltung für seinen getöteten Bruder, Rostock 2020 © Bildwerk Rostock

Zum 17. Todestag 2021 richtete sich Mehmet Turguts Bruder, Mustafa, mit einer Rede an die Teilnehmer*innen der Gedenkkundgebung:

Kopie der Rede von Mustafa Turgut für die Gedenkkundgebung, Rostock 2021.

Der Wunsch der Familie von Mehmet Turgut, die Straße am Tatort umzubenennen, wurde bis heute nicht umgesetzt. Zivilgesellschaftliche Initiativen greifen die Forderung auf und erinnern immer wieder mit symbolischen Straßenumbenennungen an Mehmet Turgut.

Inoffizielle Umbenennung des Neudierkower Weg in Mehmet Turgut Straße zum Beginn des NSU-Prozess in München, Rostock 2013 © Info Nordost
Inoffizielle Umbenennung des Neudierkower Weg in Mehmet Turgut Straße zum Beginn des NSU-Prozess in München, Rostock 2013 © Info Nordost
Straßenumbenennung zum Beginn des NSU-Prozess in München , Berlin 2013 © Initiative für antirassistisches Gedenken und Handeln
Straßenumbenennung zum Beginn des NSU-Prozess in München , Berlin 2013 © Initiative für antirassistisches Gedenken und Handeln
Straßenumbenennung anlässlich des 20. Jahrestag des
Straßenumbenennung anlässlich des 20. Jahrestag des „Asylkompromiss“ , Lübeck 2013 © Aktion 20 Jahre
Platzumbenennung anlässlich des Jahrestages der Selbstenttarnung des NSU, Bremen 2014 © Gruppe ARA
Platzumbenennung anlässlich des Jahrestages der Selbstenttarnung des NSU, Bremen 2014 © Gruppe ARA
Straßenumbenennung in Heidelberg, 2018.Straßenumbenennung, Heidelberg 2018 © Antifaschistische Initiative Heidelberg
Straßenumbenennung, Heidelberg 2018 © Antifaschistische Initiative Heidelberg
Straßenumbenennung, Rostock 2021.
Straßenumbenennung, Rostock 2021.