Tafel am Rathaus

Im Oktober 1992 brachten jüdische Aktivist*innen aus Frankreich und Aktivist*innen von Rom*nja-Organisationen eine Gedenktafel am Rostocker Rathaus an. Die Tafel wurde unmittelbar nach der Aktion demontiert. Seit dem August 2012 befindet sich am Seiteneingang des Rathauses eine Replik.

Beteiligt waren an der Aktion Aktivist*innen der „Söhne und Töchter der deportieren Juden aus Frankreich“ und des „Roma National Congress“. Sie wollten an das Pogrom in Lichtenhagen erinnern und gegen die Abschiebungen von Rom*nja protestieren. Darüber hinaus stellten sie eine Verbindung her zwischen der Verfolgung von Rom*nja im Nationalsozialismus und dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen. Nach Auseinandersetzungen mit der Polizei wurde ein Großteil der Aktivist*innen in Rostock verhaftet und die Gedenktafel wieder demontiert. Die Verhaftungen lösten europaweite Aufmerksamkeit aus. 2012 wurde auf Initiative der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ eine leicht veränderte Version der Tafel am Rostocker Rathaus angebracht.

Protestaktion am Rostocker Rathaus im Oktober 1992

Bereits einen Monat nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen unterzeichneten der deutsche und der rumänische Innenminister ein „Rücknahmeabkommen“. Es ermöglichte, abgelehnte Asylsuchende auch ohne Ausweispapiere nach Rumänien abzuschieben. Außerdem konnten nun Rumän*innen, welche illegal die Grenze überquert hatten, abgeschoben werden, noch bevor sie einen Antrag auf Asyl stellen konnten. Insbesondere den Rom*nja unter den rumänischen Geflüchteten drohte die unfreiwillige Rückkehr in ein Land, in dem sie rassistischer Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt waren.

Um sich mit den betroffenen Rom*nja zu solidarisieren, protestierten am 14. Oktober 1992 Aktivist*innen von mehreren jüdischen Organisationen aus Frankreich zusammen mit dem „Roma National Congress“ am Rostocker Rathaus. Die Aktivist*innen brachten gemeinsam eine Gedenktafel am Rathaus an. Auf dieser stellten sie eine Verbindung her zwischen dem Pogrom in Lichtenhagen und der Verfolgung von Sinti*zze und Rom*nja im Nationalsozialismus:

Die von den Aktivist*innen angebrachte Gedenktafel © picture-alliance/ ZB | Bernd Wüstneck
Die von den Aktivist*innen angebrachte Gedenktafel © picture-alliance/ ZB | Bernd Wüstneck
Besetzung des Rathauses in Rostock © picture-alliance/ ZB | Bernd Wüstneck
Besetzung des Rathauses in Rostock © picture-alliance/ ZB | Bernd Wüstneck
Französische Aktivist*innen vor dem Rathaus in Rostock © picture-alliance / dpa | Bernd Wüstneck
Französische Aktivist*innen vor dem Rathaus in Rostock © picture-alliance / dpa | Bernd Wüstneck

Einige der Aktivist*innen drangen in die Räume der CDU-Fraktion im Rathaus ein und hingen ein Transparent mit der Aufschrift „Keine Ausweisung der Roma aus Deutschland“ aus den Fenstern. Als die Polizei einige der Demonstrierenden festnehmen wollte, kam es zu körperlichen Auseinandersetzungen. 46 der französischen Aktivist*innen wurden schließlich in Gewahrsam genommen. Ein Bericht des NDR von 2022 zeigt zeitgenössische Aufnahmen von dem Ereignis und lässt Beteiligte zu Wort kommen:

NDR: Nordmagazin vom 23.10.2022.

Die Gedenktafel am Rostocker Rathaus wurde in kürzester Zeit abmontiert und befindet sich heute im Depot des Kulturhistorischen Museums der Hansestadt. Die Aktion und das Vorgehen der Polizei erregten europaweite Aufmerksamkeit. In Deutschland und Frankreich gab es Aktionen in Solidarität mit den inhaftierten Aktivist*innen.

Unter den Aktivist*innen aus Frankreich waren Mitglieder der jüdischen Organisation „Fils et Filles des Déportés Juifs de France“ (F.F.D.J.F., deutsch: Söhne und Töchter der deportieren Juden aus Frankreich). Ihre prominenten Mitglieder Beate und Serge Klarsfeld waren für ihre Recherchen nach bisher unbehelligten Nazi-Tätern berühmt geworden. Serge Klarsfeld stammte selbst aus einer jüdischen Familie aus Rumänien. Sein Vater war während der Shoa ermordet worden, er selbst überlebte versteckt in Frankreich. In seinen Texten zur Aktion stellte Serge Klarsfeld auch Bezüge zu der Abschiebung von Juden*Jüdinnen aus Frankreich nach Rumänien während des Nationalsozialismus her.

In Rostock hatte Beate Klarsfeld Verhandlungen über eine Gedenktafel mit Vertretern der Stadt Rostock geführt. Noch vor Ende dieser Verhandlungen kündigten die jüdischen Aktivist*innen aus Frankreich schließlich an, die Gedenktafel am Rostocker Rathaus anzubringen und fuhren in einem Reisebus 1200 Kilometer von Paris nach Rostock. In einem Rundbrief aus dem Oktober 1992 dokumentierten sie ihre Pressemitteilung zu der Aktion:

Bulletin F.F.D.J.F. 39 (1992), S. 2. Deutsche Übersetzung des französischen Originals: bellu&bellu.

An der Aktion beteiligt waren auch Vertreter*innen des „Roma National Congress“ und der „Rom und Cinti Union“ aus Hamburg. Bereits seit 1989 hatten Sinti*zze und Rom*nja in einer Vielzahl von deutschen Städten mit Hungerstreiks, Demonstrationen, Camps und Besetzungen gegen die Asylpolitik protestiert und die Einhaltung von Menschenrechten gefordert. Am 26. Mai 1993 protestierten Aktivist*innen der Rom und Cinti Union gemeinsam mit Geflüchteten aus Hamburg vor der KZ Gedenkstätte Neuengamme gegen die Verschärfung der Asylgesetze.

Besuch von Ignatz Bubis in Rostock im November 1992

Am 2. November 1992 besuchte eine Delegation des Zentralrats der deutschen Juden die Hansestadt. Vertreter*innen der Stadt hatten sie eingeladen, vermutlich um ein Zeichen setzen, nach der negativen Berichterstattung über den Umgang mit der Gedenkaktion am Rathaus und dem Pogrom in Lichtenhagen. Ignatz Bubis, Überlebender der Shoa und damaliger Vorsitzender des Zentralrats, zeigte sich am Sonnenblumenhaus schwer erschüttert. Dies dokumentiert ein zeitgenössischer Fernsehbericht:

Ausschnitt aus der Dokumentation „Pogrom Rostock“ (1992).

Bei einer Pressekonferenz kam es anschließend zu einem antisemitischen Vorfall. Der CDU-Bürgerschaftsabgeordnete und Vorsitzende des Rostocker Innenausschusses, Karlheinz Schmidt, sprach Bubis seine deutsche Identität ab, indem er ihm unterstellte, dass seine Heimat Israel und nicht Deutschland sei. Der antisemitische Affront löste erneut bundesweite Aufmerksamkeit aus.

Wiederanbringung der Tafel

Die während der Protestaktion im Oktober 1992 angebrachte Tafel wurde innerhalb kürzester Zeit entfernt. Zwanzig Jahre später ließ die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN-BdA) eine neue Tafel anfertigen. Sie beinhaltete den nur leicht geänderten Text der ursprünglichen Tafel. Zu den 20. Jahrestagen des Pogroms im August 2012 wurde sie an einem Seiteneingang des Rathaus angebracht. Die Stadtverwaltung duldete die Replik.

Die Gedenktafel am Rathaus nach der Wiederanbringung 2012.
© strassenstriche.net (CC BY-NC 2.0)

Nur wenige Monate später wurde die Tafel gestohlen. An ihrer Stelle hinterließen die Täter*innen neonazistische Parolen. Eine neue Tafel wurde im Dezember 2012 angebracht. Auch diese wurde 2019 gestohlen und musste ersetzt werden.