„Selbstjustiz“ – Sonnenblumenhaus Lichtenhagen
Die Stele „Selbstjustiz“ vor dem Sonnenblumenhaus erinnert an die mehrtägigen rassistischen Angriffe im August 1992, die an diesem Ort stattfanden. Die Stele steht auf einer zerschmetterten Gehwegplatte und soll auf die bis heute andauernde Bedrohung durch rechte Gewalt aufmerksam machen.
Die Stele „Selbstjustiz“ vor dem Sonnenblumenhaus erinnert an die mehrtägigen rassistischen Anschläge im August 1992, die an diesem Ort stattfanden. Die Stele steht auf einer zerschmetterten Gehwegplatte und soll auf die bis heute andauernde Bedrohung durch rechte Gewalt aufmerksam machen.
Seit 1979 befanden sich in den Aufgängen Nr. 18 und 19 des Sonnenblumenhauses ein Wohnheim für Vertragsarbeiter*innen aus Vietnam und vermutlich auch aus Kuba, Mozambique und Algerien. Nach 1989 verließen viele der Vertragsarbeiter*innen Deutschland. Im Sonnenblumenhaus lebten im Aufgang Nr. 19 nun noch etwa 100 Menschen aus Vietnam. Im Aufgang Nr. 18 wurde im Dezember 1990 die Zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende (ZASt) des Landes Mecklenburg-Vorpommern eingerichtet. Die ZASt war ab dem Sommer 1991 wiederholt überfüllt. Im Sommer 1992 mussten Asylsuchende teils tagelang ohne jegliche Versorgung vor dem Gebäude ausharren.
Mit Steinen und Brandsätzen griffen vom 22. bis 24. August 1992 mehrere hundert Gewalttäter*innen mit Unterstützung und unter Applaus von bis zu 3.000 Zuschauer*innen die Erstaufnahmestelle für Asylsuchende im Aufgang Nr. 18 und das Wohnheim der ehemaligen Vertragsarbeiter*innen aus Vietnam im Aufgang Nr. 19 an. Der Polizei gelang es über drei Tage nicht, die Anschläge zu unterbinden und die Angegriffenen ausreichend zu schützen. Nach der Räumung der Erstaufnahmestelle am 24. August zog sich die Polizei zurück und die Gewalttäter*innen setzten das Haus in Brand. Die im Haus eingeschlossenen vietnamesischen Rostocker*innen retteten sich über das Dach des brennenden Gebäudes selbst.
Wohnheim für Vertragsarbeiter:innen
Die DDR schloss ab 1967 mit anderen sozialistischen Staaten Abkommen, um so junge Arbeitskräfte anzuwerben. Diese Vertragsarbeiter*innen sollten nur einige Jahre in der DDR arbeiten und unterlagen vielen staatlichen Reglementierungen. Zum Beispiel durften die Arbeitsmigrant*innen ihren Wohnort nicht frei wählen, sondern wurden isoliert von den DDR-Bürger*innen in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. In Rostock richtete sich der Wohnort nach dem Arbeitsplatz. Die Angestellten des Fischkombinats lebten beispielsweise in Marienehe und die Angestellten des Seehafens in Lichtenhagen. Hier wohnten seit 1979 in den Aufgängen 18 und 19 des Sonnenblumenhauses in der Heinrich-Matern-Straße (heute: Mecklenburger Allee) Vertragsarbeiter*innen aus Vietnam und vermutlich auch aus Kuba, Mozambique und Algerien.
Im Vergleich zu anderen Gemeinschaftsunterkünften war das Wohnheim im Sonnenblumenhaus gut ausgestattet und komfortabel. Zwischen zwei und fünf Personen teilten sich eine Wohnung mit einer Küche und einem Badezimmer. Anders als bei einem gewöhnlichen Wohnhaus wurde der Einlass zum Wohnheim durch einen Pförtner kontrolliert und Besuche mussten vorher beantragt werden. Kontakte zu deutschen Nachbar*innen sollten so eingeschränkt werden und nur am Arbeitsplatz oder bei offiziellen Anlässen stattfinden. Auch gab es für die Vertragsarbeiter*innen kaum Möglichkeiten, an Sprachkursen teilzunehmen.
Entgegen dieser strengen Kontrolle gestalteten die jungen Vertragsarbeiter*innen das Leben im Sonnenblumenhaus selbstbestimmt. Sie wichen den Kontrollen aus und feierten gemeinsame Feste. Einige der Vietnames*innen nähten Jeans, die sie privat an DDR-Bürger*innen verkauften. Über das Ankommen und Leben in Rostock-Lichtenhagen berichtet im Interview Mai-Phuong Kollath, die 1981 aus Hanoi nach Rostock kam:
Nach dem Ende der DDR verließen viele der Vertragsarbeiter*innen Rostock. 1992 lebten im Aufgang Nr. 19 des Sonnenblumenhauses noch rund hundert ehemalige Vertragsarbeiter*innen, die alle aus Vietnam kamen. Ihr Aufenthaltsstatus in Deutschland war unsicher und viele waren von großer wirtschaftlicher Not betroffen. Immer wieder gab es zudem rassistische Übergriffe auf ehemalige Vertragsarbeiter*innen.
In der Nacht vom 24. August zum 25. August wurde das ehemalige Wohnheim durch Brandsätze schwer beschädigt. Die vietnamesischen Rostocker*innen retteten sich selbst über das Dach des brennenden Gebäudes. Die beiden Aufgänge, in denen sich das Wohnheim befunden hatte, wurden anschließend von der Seehafen AG an die städtische Wohnungsbaugesellschaft WIRO verkauft. Die WIRO sanierte beide Gebäudeteile und vermietet sie als reguläre Wohnungen.
Zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende (ZASt)
Im Aufgang Nr. 18 des Sonnenblumenhauses wurde im Dezember 1990 die Zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende (ZASt) des Landes Mecklenburg-Vorpommern eingerichtet. Die ZASt war die erste Anlaufstelle für alle Asylsuchenden im ganzen Bundesland. Hier musste sich jede Person registrieren lassen, bevor ihr eine Unterkunft in Mecklenburg-Vorpommern zugewiesen wurde.
Einen Monat nach der Eröffnung berichtete das Abendjournal im DFF über die ZASt in Lichtenhagen. Bilder aus dem Bericht vermitteln einen Eindruck von den Bedingungen vor Ort:
Seit den 1980er Jahren hatte die Zahl der Asylanträge in der Bundesrepublik stetig zugenommen und stieg Anfang der 1990er in Folge des Zusammenbruchs der sozialistischen Staaten in Ost(mittel)europa stark an. Fast die Hälfte aller Menschen, die 1992 in Deutschland Asyl beantragten, kam aus den Staaten Ex-Jugoslawiens und aus Rumänien. Sie flohen vor den beginnenden Kriegen oder weil sie sich ein besseres Leben aufbauen wollten, nach Westeuropa.
Die Erstaufnahmestelle für Geflüchtete in Lichtenhagen war für die kurzfristige Unterbringung von 200 Personen ausgelegt. Bereits ein halbes Jahr nach der Eröffnung wurden diese Kapazitäten erstmals überschritten. Stadt und Land reagierten über mehrere Monate unzureichend auf den steigenden Bedarf. Die Stadt Rostock brachte Geflüchtete temporär in Turnhallen oder Zelten auf dem Gelände anderer Unterkünfte unter. Dadurch wurden jedoch immer nur kurzfristig Kapazitäten geschaffen.
Für die Ankommenden hatte die Überbelegung der Aufnahmestelle 1992 katastrophale Folgen. Sie mussten mitunter mehrere Tage unter freiem Himmel schlafen, hatten keinen Zugang zu Toiletten, Sanitäreinrichtungen, angemessener medizinischer Hilfe, Lebensmitteln oder Bargeld. Asylsuchende und Anwohner*innen berichten im Video von der unerträglichen Situation:
Auch im Haus war die Lebenssituation der Asylsuchenden vermutlich von Überfüllung, dem schlechten Zustand der Räume und der mangelnden Unterstützung durch Verwaltungsmitarbeiter*innen oder Sozialarbeiter*innen geprägt. Darüber berichtet im Interview Romeo Tiberiade, der im August 1992 in der ZASt lebte:
Im Umfeld der ZASt kam es zu rassistischen Pöbeleien und körperlichen Angiffen gegen Asylsuchende. Im Interview berichtet Marian Dumitru, der mit seiner Familie im August 1992 in der ZASt lebte, über seine Erfahrungen beim Einkaufen und die Kontakte mit den Mitarbeiter*innen der ZASt:
Das Land Mecklenburg-Vorpommern suchte seit dem Sommer 1991 nach einem neuen Standort für die landesweite Erstaufnahmeeinrichtung. Am 1. September 1992 sollte die ZASt in Lichtenhagen geschlossen werden und der Umzug nach Rostock-Hinrichshagen erfolgen.
Vom 22. bis 24. August 1992, ein Wochenende vor der geplanten Schließung, kam es zum rassistischen Pogrom in Lichtenhagen. Die gewaltsamen Übergriffe gegenüber Geflüchteten waren zuvor in Lokalzeitungen angekündigt worden.
Über zwei Tage waren die Asylsuchenden in der ZASt den Angriffen mit Brandsätzen und Wurfgeschossen ausgesetzt, bis sie am dritten Tag in andere Sammelunterkünfte in Mecklenburg-Vorpommern gebracht wurden. Mit dieser Räumung am 24. August 1992 wurde die ZASt in Rostock-Lichtenhagen endgültig geschlossen.
Eine neue Erstaufnahmestelle wurde zunächst in Rostock-Hinrichshagen eingerichtet. Im Mai 1993 wurde die ZASt in Nostorf-Horst eröffnet. Dort befindet sie sich bis heute. Gegen die Unterbringungssituation in Nostorf-Horst finden monatlich Mahnwachen von Bewohner*innen und antirassistischen Gruppen statt. 2021 und 2022 machten Aktivist:innen mit Bustouren nach Nostorf-Horst auf die Verbindung zwischen dem Pogrom in Lichtenhagen und der ZASt in Nostorf-Horst aufmerksam. Das Video zeigt die Bustour 2022, die vom Rostocker Rathaus, über den Landtag in Schwerin bis zur Erstaufnahmeeinrichtung in Nostorf-Horst führte:
Ablauf des Pogroms – Erzählungen von Betroffenen
Bereits in den Wochen vor dem Pogrom gab es in Rostock-Lichtenhagen rassistische Pöbeleien und Angriffe auf Migrant*innen. Neonazis machten mit Flugblättern gezielt Stimmung gegen die in Lichtenhagen ankommenden Asylsuchenden. In den Tagen vor dem Pogrom wurde in Rostocker Tageszeitungen dazu aufgerufen, sich am 22. August 1992 in Lichtenhagen zu versammeln, um gegen die ZASt vorzugehen.
Am Nachmittag des 22. August 1992, einem Samstag, versammelte sich eine Menschenmenge vor dem Sonnenblumenhaus. Aus der Menge heraus wurden rassistische Beleidigungen gerufen und rechte Parolen skandiert. Die vor der ZASt wartenden Asylsuchenden wurden in das Gebäude gelassen und dort in Kellerräumen untergebracht. Im ehemaligen Wohnheim bereiteten sich vietnamesische Rostocker:innen und Unterstützer*innen aus der Stadt auf die Angriffe vor. Als die Angriffe schließlich am Abend des 22. August 1992 begannen, richteten sie sich von Anfang an auch gegen das ehemalige Wohnheim und die dort lebenden Menschen. Darüber berichtet im Interviews Wolfgang Richter, der ehemalige Ausländerbeauftragte der Hansestadt Rostock:
Diese Angriffe setzten sich über drei Tage, bis zum 24. August 1992 fort. Aus einer Menge von zeitweise bis zu 3000 Personen wurden die Asylsuchenden und vietnamesischen Rostocker*innen im Sonnenblumenhaus, sowie die zum Schutz des Gebäudes eingesetzten Polizist*innen mit Steinen, Brandsätzen und Signalpistolen angegriffen. Über seine Erinnerungen an die Angriffe spricht im Interview Romeo Tiberiade, der das Pogrom mit seiner Familie in der ZASt erlebte:
Mehrere der rumänischen Rom:nja, die das Pogrom in der ZASt überlebten, erinnern sich daran, wie Teile der ZASt in Brand gesteckt wurden und sie aus dem brennenden Gebäude fliehen mussten. Bislang ist nicht geklärt, an welchem Tag des Pogroms dies passierte. Auch Mariam Dumitru erinnert die Flucht aus dem brennenden Gebäude:
Am Nachmittag des 24. August, einem Montag, wurden die verbliebenden Asylsuchenden aus der ZASt mit Bussen in andere Sammelunterkünfte gebracht. Die vietnamesischen Rostocker*innen blieben im Sonnenblumenhaus. Die Polizei zog sich am Abend für knapp zwei Stunden vollständig vom Schutz der Wohnungen der Vietnames*innen zurück. In dieser Zeit steckten die rassistischen Gewalttätigen das Gebäude in Brand, in dem sich zu diesem Zeitpunkt bis zu 150 Menschen aufhielten. Die Feuerwehr konnte das brennende Haus ohne Polizeischutz nicht löschen. Tausende Menschen bejubelten den Mordversuch und behinderten die Rettungsdienste.
Die im brennenden Haus eingeschlossenen Menschen – circa 120 vietnamesische Bewohner*innen, Unterstützer*innen aus dem Jugendalternativzentrum, Mitarbeitende der beiden Unterkünfte, ein Kamerateam des ZDF und der damalige Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter – waren in dieser lebensbedrohlichen Situation auf sich allein gestellt. Sie sammelten sich in der sechsten Etage des ehemaligen Wohnheims der Vietnames*innen. Um ein Aufeinandertreffen mit den in die unteren Etagen des Hauses eingedrungenen Gewalttätigen zu verhindern, verbarrikadierten sie die Treppenaufgänge und setzten den Fahrstuhl außer Betrieb. Zeitgleich suchten sie einen Ausweg aus dem brennenden Gebäude. Die Zugänge zum Dach waren jedoch verschlossen und schwer gesichert. Unter größter Mühe und Kraftanstrengung gelang es ihnen, zwei Türen aufzubrechen und über das Dach in den Aufgang der Mecklenburger Allee Nr. 15 zu fliehen. Hier suchten sie bei Nachbar*innen Unterschlupf. Nachdem Polizei und Feuerwehr zum brennenden Haus zurückgekehrt waren, wurden die Vietnames*innen in eine Notunterkunft gebracht. Der Filmausschnitt zeigt die Selbstrettung und die anschließende Suche nach Schutz aus der Sicht der Angegriffenen:
Dieser selbstorganisierten Rettungsaktion ist es in erster Linie zu verdanken, dass dem von mehreren tausend Menschen bejubelten Mordversuch niemand zum Opfer fiel. Eine vietnamesische Überlebende berichtete 2014 über ihre Erinnerungen und die Auswirkungen des Pogroms auf ihr Leben:
„Wir haben uns in einer Reihe auf dem Flur aufgestellt und haben uns vorbereitet, auf das Dach zu klettern. Für mich ging das sehr schwer, weil ich im 8. Monat schwanger war. Draußen wurden weiter Feuerflaschen geworfen und es wurde immer stärker. Hinter dem Haus war Chaos. Die Menschen liefen um ihr Leben. Heute denken wir, wir hätten sterben können. […]
Ich habe mein Kind einen Monat zu früh zur Welt gebracht. Vielleicht gab es einen Zusammenhang mit den Anschlägen. Zum Glück ist mein Kind gesund. Vor zwanzig Jahren habe ich Lichtenhagen selbst erlebt und werde es nie vergessen. Obwohl ich versucht habe, es zu vergessen, habe ich es nicht geschafft. Jeden Sommer, wenn ich ans Meer fahre und das Sonnenblumenhaus sehe, habe ich noch Angst. Und ich will auch nicht daran denken, aber ich frage mich noch immer, wie konnte so etwas in diesem zivilisierten und industrialisierten Land, in dem wir wohnen, passieren? Ich werde es nie vergessen. Es sitzt tief in meiner Erinnerung und ich werde es nie vergessen können. Wir sind gute Bürger, wir leben nach dem Gesetz, nach der Vereinbarung zweier Regierungen. Nach Lichtenhagen, diesem furchtbaren Anschlag von bösen Menschen, habe ich immer noch zu mir selbst gesagt: ‚Es gibt auch doch viele gute Menschen hier.‘ Deswegen, trotz allem, fühle ich mich hier wohl und gut aufgehoben.“
Zitiert nach: Diên Hồng – Gemeinsam unter einem Dach e.V.: Ausstellung „Vietnamesische Rostocker. Ehemalige Vertragsarbeiter erzählen“, 2014.
Täter*innen
Nach der deutschen Einheit stieg die Zahl rechter Gewalttaten im gesamten Bundesgebiet an. Von 1990 bis zum Pogrom in Lichtenhagen hatten bereits mindestens 30 Menschen durch rechte Gewalt ihr Leben verloren. Unter ihnen war der 18-jährige Dragomir Christinel, der im März 1992 in Saal bei Ribnitz-Damgarten von Jugendlichen aus rassistischen Motiven erschlagen wurde.
Bereits in der DDR hatte es eine neonazistische Szene und rechte Gewalt gegeben, deren Existenz von staatlicher Seite jedoch verleugnet wurde. Seit der deutschen Einheit konnten extrem rechte Organisationen und Parteien in den ostdeutschen Bundesländern offen um Mitglieder werben und stießen damit in Teilen der Bevölkerung auf reges Interesse. Auch in Rostock kam es in dieser Zeit zur Gründung neonazistischer Parteien und Organisationen. Vor dem Pogrom verteilten sie massenhaft Flugblätter, die mit rassistischer Hetze zum Widerstand gegen Geflüchtete aufriefen.
An dem rassistischen Pogrom beteiligten sich tausende Menschen – neben organisierten Neonazis aus dem gesamten Bundesgebiet auch Jugendliche und Anwohner*innen aus Rostock. Während einige das Haus mit Brandbomben und Wurfgeschossen angriffen und am Montagabend schließlich in Brand setzten, applaudierten mehrere tausend Menschen, skandierten rassistische Parolen und behinderten Polizei und Rettungsdienste.
Bis auf wenige Ausnahmen blieben die Täter*innen straffrei und mussten sich nicht vor Gericht verantworten. Von 408 Ermittlungsverfahren wurden die meisten eingestellt. Insgesamt 25 Jugendliche bzw. Heranwachsende und elf Erwachsene erhielten Strafen zwischen ein und drei Jahren, zum Teil ausgesetzt auf Bewährung. 2002 fand der letzte „Lichtenhagenprozess“ vor dem Landgericht Schwerin statt. Die drei Täter wurden zu Bewährungsstrafen zwischen 12 und 18 Monaten verurteilt – erstmals wegen versuchten Mordes.
In der neonazistischen Szene wurde das Pogrom als Erfolg bewertet. In den folgenden Wochen kam es im gesamten Bundesgebiet zu gewaltsamen Übergriffen auf Unterkünfte von Geflüchteten und Migrant*innen. Die Grafik zeigt rechte Gewalttaten in Mecklenburg-Vorpommern vor und nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen.
Rechte Gewalt ist in Mecklenburg-Vorpommern leider kein Thema der Vergangenheit. 2004 wurde Mehmet Turgut durch Neonazis des NSU-Terrornetzwerks in Rostock ermordet. 2021 zählte die Beratungsorganisation LOBBI 66 rechte Angriffe in Mecklenburg-Vorpommern, von denen 103 Menschen direkt betroffen waren. Statistisch gesehen ereignete sich 2021 alle sechs Tage eine rechte Gewalttat in Mecklenburg-Vorpommern.
Ein Mitarbeiter von LOBBI berichtet über die seit 1992 veränderten Rahmenbedingungen rechter Gewalt und die Auswirkungen auf Betroffene:
Anwohner*innen in Lichtenhagen
Wolfgang Richter, von Mai 1991 bis Dezember 2009 Ausländerbeauftragter der Hansestadt Rostock, beschreibt die Situation im Stadtteil Lichtenhagen schon ein Jahr vor dem Pogrom 1992 als angespannt und unzumutbar für alle Seiten:
Darüber, dass Anwohner*innen den vor der ZASt ausharrenden Geflüchteten geholfen hätten, ist heute wenig bekannt. Mit Beschwerden, Hausversammlungen und Briefen versuchten sie stattdessen die politisch Verantwortlichen zum Handeln zu bewegen. Diese versprachen eine Verlegung der ZASt, trugen aber wenig zur Verbesserung der Situation vor Ort im Stadtteil bei. Selbst das Aufstellen von mobilen Toiletten wurde verweigert.
Während des Pogroms stellten sich nur wenige Anwohner*innen an die Seite der Angegriffenen, indem sie ihnen Unterschlupf in ihren Wohnungen gewährten oder Notrufe absetzten. Mehrere tausend Rostocker*innen schlossen sich hingegen der Menschenmenge an, aus der heraus die Angriffe gegen die Asylsuchenden und die Vietnames*innen erfolgten. Sie beteiligten sich an den Übergriffen, übten selbst Gewalt aus, riefen rassistische Parolen, sahen zu, klatschten oder erschwerten den Einsatz von Polizei und Feuerwehr.
Sandra, die in Lichtenhagen zur Schule ging, und Ute, die Samstagabend vor Ort war, schildern das Wiedererkennen von Freund*innen und Nachbar*innen unter den Angreifer*innen und Schaulustigen:
Denkmal vor dem Sonnenblumenhaus
Bereits 2012 wurde zu den 20. Jahrestagen von der Stadt Rostock vor dem Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen eine Eiche zum Gedenken an das rassistische Pogrom gepflanzt. Wenige Tage später wurde der Baum abgesägt. Die Gruppe „Antifaschistischer Fuchsschwanz“ bekannte sich zu der Tat und kritisierte, dass die Eiche als Symbol für deutschen Militarismus und Nationalismus kein angemessenes Erinnerungszeichen für das rassistische Pogrom sein könne.
Bildnachweis: links: picture alliance / dpa / Jens Büttner // rechts: picture alliance / dpa / Bernd Wuestneck
Zum 25. Jahrestag des Pogroms 2017 wurde die Stele mit dem Titel „Selbstjustiz“ eingeweiht. Sie ist Teil des dezentralen Denkmals „Gestern Heute Morgen“. Fünf weitere Gedenkstelen sind im Rostocker Stadtgebiet verteilt. Im Interview erklärt das Künstler*innenkollektiv Schaum, wie die Stele auf die bis heute andauernde Bedrohung durch rechte Gewalt aufmerksam machen soll: