Bis heute ist nicht bekannt, wie viele Menschen während des Pogroms in der Zentralen Aufnahmestelle (ZASt) waren, wie ihre Namen sind oder aus welchen Ländern sie kamen. Bekannt ist, dass einige von ihnen Rom*nja aus dem Süden Rumäniens waren. Die Minderheit der Rom*nja ist in vielen Ländern Diskriminierungen ausgesetzt. In Rumänien erlebten viele Rom*nja nach dem Ende der sozialistischen Diktatur 1990 extreme Armut, staatliche Verfolgung und rassistische Gewalt. Manche von ihnen entschlossen sich daraufhin, Rumänien zu verlassen und beispielsweise nach Deutschland zu gehen.
In Zusammenarbeit mit dem Roma Center e.V. (Göttingen), dem Asociația Centrul de Cultură al Romilor Dolj (Craiova) und den Wissenschaftler*innen Cristian Padure und Ionela Padure (Bukarest) konnten wir 2022 erstmals Kontakte zu Betroffenen des Pogroms herstellen, die aus rumänischen Rom*nja-Communities kommen.
Auf dieser Seite präsentieren wir Texte, Interviews und Veranstaltungsmitschnitte, die seit 2022 entstanden sind.
Zu den 31. Jahrestagen des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen besuchten erstmals Zeitzeug*innen, die das Pogrom als Asylsuchende im Sonnenblumenhaus überlebt hatten, Rostock. Maria Miclescu, Ioana Miclescu, Romeo Tiberiade, Petricǎ Ilie und Paganini Zǎtreanu waren Anfang der 1990er Jahre mit ihren Familien aus Rumänien nach Deutschland gekommen. Als Rom*nja waren sie in Rumänien Verfolgung und Armut ausgesetzt. In Deutschland suchten sie Freiheit und ein besseres Leben für sich und ihre Kinder. Heute leben alle fünf im südrumänischen Craiova.
Bei einer Veranstaltung in Rostocker Rathaus am 26. August 2023 sprachen die fünf Zeitzeug*innen über ihre Erinnerungen an das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen, die Zeit nach den Angriffen und ihre Wünsche für die Zukunft. Izabela Tiberiade, welche 2022 erstmals Interviews mit Zeitzeug*innen aus Rumänien geführt hatte, berichtete zudem über die Geschichte des Projekts und die aktuelle Situation der Rom*nja-Community in Craiova.
Von Cristian Padure und Ionela Padure
Die beiden Wissenschaftler*innen Cristian Padure und Ionela Padure haben seit 2021 zu rumänischen Rom*nja recherchiert, die das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen überlebt haben. Sie konnten Kontakt zu einer Familie herstellen, die aus Alexandria im Süden Rumäniens kommt. Im folgenden Text stellen die Forscher*innen erstmals Ausschnitte aus den insgesamt fünf Interviews vor, geben Einblicke in die Erzählungen der Betroffenen und berichten von ihren Recherchen.
„Unser Glück war, dass, als sie mit den Ziegelsteinen warfen, ich mit dem kleinen Mädchen auf dem Boden war. Wir spielten mit meiner Enkelin, sie warfen mit einem großen Ziegelstein, er ging am Fenster vorbei und landete an der Wand. Es war unser Glück, dass weder wir, noch ich, noch das kleine Mädchen verletzt wurden.“
Dies sind die Berichte einer Familie: die Berichte von Ilie, dem Vater, seiner Tochter Monica und seinem Schwiegersohn Albert. Sie und weitere Mitglieder ihrer Familie sind Betroffene des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen 1992.
Wie sie berichten, haben sie Rumänien auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen. Sie hatten gehört, dass man in Deutschland besser leben könne. Darum gingen sie. Albert sagt, dass er
„nicht erwartet hat, mit einer großen Umarmung empfangen zu werden. Aber zumindest gleich behandelt zu werden, ein normaler Menschen unter anderen Menschen zu sein.“
Von Rostock hatten die Interviewten vorher noch nichts gehört. Sie wollten in Deutschland ankommen. Albert sagt, dass Rostock die erste Station war, an der die Einwander*innen empfangen wurden. So kamen sie nach Rostock.
Die Grenze nach Deutschland überquerten sie illegal mit der Hilfe eines jungen Mannes. Allein daraus lässt sich wohl ein ganzes Drehbuch schreiben, mit vielen Momenten, in denen ihr Leben in Gefahr war. Sie erreichten das Sonnenblumenhaus in Rostock und standen draußen, wo viele Menschen aus der ganzen Welt auf die offiziellen Dokumente warteten, die es ihnen erlauben würden, dort zu leben. Während sie warteten, begannen die Angriffe.
„Sie haben alles in Brand gesteckt, sie waren gefährlich, sie wollten uns töten. Es gab Geschrei, Geweine, eine große Angst.“
Die Polizei war vor Ort, und die Befragten erzählen, dass sie sich sicher fühlten, auch wenn das Eingreifen der Behörden ihrer Meinung nach nicht so stark war, wie es hätte sein sollen, da es den Angreifer*innen gelang, die ersten Stockwerke des Hauses in Brand zu setzen. Sie erinnern sich daran, dass sie nur eines wollten: Gesund und munter nach Hause zurückkehren.
Die drei sprechen mit Angst über diese Ereignisse und stellen fest, dass, je mehr sie darüber sprechen, immer mehr Erinnerungen zurückkommen.
„Nach dem Interview, das wir das letzte Mal gemacht haben, kamen viele Erinnerungen zurück, die ich für verloren hielt oder die ich versucht hatte, zu vergessen. Ich glaube wirklich, dass ich sie vergessen wollte oder über die Jahre wirklich vergessen hatte, aber sie kamen zurück in mein Gedächtnis.“
Das sagt Albert, und die Analyse der fünf Interviews zeigt, dass der Gedanke, dass sie versucht hatten, zu vergessen, aber die Erinnerungen dennoch da sind, bei allen von ihnen gegenwärtig ist.
Auf die Frage, warum diese Ereignisse stattgefunden hätten, sagen sie, dass die Deutschen sich als Überlegene sehen und so reagieren, weil sie keine Einwander*innen in ihrem Land haben wollen. Monica sagt:
„Sie sahen uns – viele Z*** – auf dem Platz. Ich weiß es nicht. Ich glaube, das war der Grund – wir waren viele Z*** dort, auf diesem Platz. Wir waren viele, jede Nation dieser Welt. Sie wollten uns verletzen. Nein, nicht nur uns verletzen, uns töten. Sie legten Feuer. Die Zeitungen schrieben darüber und es gab Fotos von dem brennenden Haus.“
Die Interviewten stellen einen Bezug zu den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs her und kommen zu dem Schluss, dass die Ereignisse in Rostock auf die Einstellungen der Menschen und nicht auf eine politische Strategie zurückzuführen sind. Dennoch betont Albert, dass
„sie [die Angreifer*innen] organisiert waren. Sie wussten, was sie tun und was sie tun werden. Irgendjemand von ihnen hat sie koordiniert“.
Ihrer Aussage nach haben die Medien in Deutschland das Thema aufgegriffen und diskutiert. In Rumänien hätten sie nichts darüber gehört. Weitere Nachforschungen ergaben, dass die rumänische Presse tatsächlich über die Ereignisse in Rostock berichtete, wie zum Beispiel in dem Presseartikel vom 21. August 2012, in dem erwähnt wird, dass zahlreiche Gruppen tagelang ein Flüchtlingsheim im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen angegriffen haben – dies sei ein Schandfleck für die deutsche Demokratie.
Auf die Frage, ob sie Personen kennen, die nach den Ereignissen in Rostock in Deutschland geblieben sind, antworteten die Interviewten, dass sie niemanden kennen. Sie sagten, dass einige Familien eine Zeit lang Kontakt hielten, dieser dann aber abriss. Als Teil der Rom*nja-Community wissen wir, die Interviewer*innen, dass wir nicht unbedingt über tragische Ereignisse aus der Vergangenheit sprechen. In den Rom*nja-Community, aber nicht nur dort, herrscht der Glaube vor, dass, wenn man über die Vergangenheit und insbesondere über die tragischen Ereignisse der Vergangenheit spricht, diese Ereignisse immer noch präsent sind und der Person schaden können. Daher sind die Spuren nicht leicht zu finden.
In unseren Gesprächen betonen die Interviewten die emotionalen Spuren, die diese Ereignisse bei ihnen hinterlassen haben. Auf die Frage, ob die jüngere Generation darüber Bescheid wissen sollte, antworten sie, dass sie das sollte, auch wenn es schwierig wäre, mit diesem Wissen zu leben. Albert sagt:
„Ich weiß nicht, ob es richtig war, dass ich es ihnen nichts erzählt habe. Als sie noch klein waren, habe ich ihnen nichts erzählt, weil ich das Gefühl hatte, dass ich sie auf diese Weise schützen könnte. Damit sie ihr Vertrauen in die Welt nicht verlieren. Damit sie nicht in Angst leben müssen. Ich wollte ihnen dieses Gefühl nicht geben. Ich habe das für mich behalten. Aber jetzt, wenn sie davon hören oder wenn ich ihnen davon erzähle, sind sie groß genug, um zu wissen, dass so etwas nicht ständig passiert, sondern dass es damals passiert ist.“
Monica sagt auch, dass
„sie [die zweite Generation] es wissen sollte. Es ist gut zu wissen, wohin man geht, dass es einem gut ergehen kann oder nicht, und mit diesem Wissen Entscheidungen zu treffen. Ich glaube, das wird ihnen helfen. Ich glaube das wirklich. Sie müssen wissen, dass jederzeit etwas Schlimmes passieren kann, auch wenn man nicht daran denkt.“
Es ist zu betonen, dass es sich um ein sensibles Thema handelt, das nicht einfach zu bearbeiten ist. Die Interviews wurden in zwei Durchgängen durchgeführt und dabei auch der Grad der emotionalen Anteilnahme bei der Beantwortung der Fragen beobachtet. Wir stellten fest, dass die Antworten in der zweiten Runde der Befragung ausführlicher waren und dass die Zeugen ein Interesse daran hatten, an der Forschung zu den Ereignissen in Rostock in diesem Sommer beteiligt zu sein.
Eine weitere Beobachtung ist, dass man in den fünf Interviews Stereotype und Vorurteile gegenüber Deutschen feststellen kann, die sich vielleicht aus Hass und Angst speisen. Dennoch sagt Monica, dass
„sie [die Deutschen] eine andere Art zu denken haben. Ich kann mir vorstellen, was er über uns denkt, aber nein, ich würde ihn wie einen Menschen behandeln, der zu uns gekommen ist und ihn respektieren. Aber in meinem Hinterkopf wüsste ich, dass er zu den Menschen gehört, die uns viel Schaden zugefügt haben.“
Die Befragten äußerten ein hohes Maß an Misstrauen gegenüber Fremden im Allgemeinen und gegenüber Behörden. Sie sagten, dass sie sich sogar in Rumänien weniger als Bürger fühlten, weil sie Roma sind, was emotionale und mentale Auswirkungen hätte. Als sie nach Deutschland gingen und das Pogrom erlebten, waren sie in Lebensgefahr. Eine der Auswirkungen dieser Tatsache ist ein Leben in Angst und, wie Albert betont, in Demütigung.
Bei der Suche nach Zeitzeug*innen der Ereignisse in Rostock trafen wir auf Personen mit ähnlichen Erlebnissen, die nicht in Rostock, sondern in anderen deutschen Städten im selben Jahr stattfanden. Um ein breiteres Bild von diesen Ereignissen auf nationaler Ebene zu erhalten, werden wir auch einige dieser Personen interviewen. Auf diese Weise werden wir in der Lage sein, eine vollständigere Analyse der Ereignisse zu liefern.
An diesem Punkt der Forschung zu den Ereignissen in Rostock, Deutschland, im Jahr 1992 können wir feststellen, dass es ein schwierig zu behandelndes Thema ist und dass die Menschen immer noch von den Ereignissen betroffen sind. Nichtsdestotrotz ist die Möglichkeit, in einem geschützten Raum über die Ereignisse zu sprechen und sich zu erinnern, von großer Bedeutung für den Heilungsprozess, der so wichtig ist, um die Aufarbeitung voranzubringen.
In den vier Interviews aus dem Sommer 2022 sprechen Menschen, welche die tagelange rassistische Gewalt in Lichenhagen überlebt haben. Sie alle sind Rom*nja und leben heute im südrumänischen Craiova. Anfang der 1990er Jahre flohen sie vor rassistischer Diskriminierung und extremer Armut nach Deutschland. In den Interviews sprechen sie über das Leben im postsozialistischen Rumänien, die Flucht, die Angriffe in Lichtenhagen und das Leben in Deutschland.
Über die Navigationsleiste (CC) lassen sich die Untertitel aktivieren.
Alle Interviews wurden von Izabela Tiberiade und Romeo Tiberiade im Juli 2022 in Craiova geführt. Izabela Tiberiades Eltern, Romeo Tiberiade und Iona Miclescu sind selbst Überlebende des Pogroms. Bei einer Veranstaltung zu den 30. Jahrestagen des Pogroms in Lichtenhagen stellte Izabela Tiberiade drei der Interviews in Rostock vor.
Über die Navigationsleiste (CC) lassen sich die Untertitel aktivieren.